PresseDas Kreuz lässt ihn nicht los
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Von Stephan Hermsen
Das Kreuz lässt ihn nicht los. Nicht einmal beim späten, zweiten Frühstück, als er aus seinem Dreivierteljahrhundert Leben erzählt. Seine Hände können nicht stillhalten beim Reden, fuhrwerken mit Messer und Teelöffel auf dem Teller herum, bis sie dort ein Kreuz bilden. Darauf angesprochen lächelt Alfred Grimm fast verlegen. Schnell klaubt er eine Scheibe rohen Schinken vom Teller, drapiert sie wie einen Korpus auf dem Kreuz aus Besteck.
Ein paar Gramm Kunst, geboren aus Witz und Scham und der Lust an der Provokation: Seit mehr als 50 Jahren hat sich der Dinslakener Künstler immer wieder abgearbeitet an dem Gekreuzigten. 1968 war es, als Alfred Grimm in der Lutherkirche in Bruckhausen eine eindrucksvolle Predigt hörte vom Leiden des Herrn am Kreuze. Seitdem hat er sein Publikum immer wieder herausgefordert mit Darstellungen des Heilands, die die einen fasziniert und die anderen abstößt.
Heute, so Grimm, regiert in den Kirchen oft eine Kultur der Angst. Weg ist der Mut des Aufbruchs, weg die Lust an der künstlerischen Diskussion – zwei Ausstellungen seiner Kreuzobjekte in Kirchen sind in den letzten Jahren abgebrochen oder abgelehnt worden.
Zu groß der Widerspruch – oder schon die Angst davor. „Ein Pfarrer hat mir mal gesagt: Vor diesen Kreuzen kann ich nicht beten, aber sehr gut predigen“, sagt Grimm, bei dessen künstlerischen Denkanstößen der Anstoß in den letzten Jahren offenkundig überhandgenommen hat.
Und wenn man ihn, der sich nunmehr zwei Drittel seines Lebens an und mit dem Kreuz abgearbeitet hat, heute fragt nach Tod und Auferstehung, kommt ihm seine Frau zuvor. „Er hält sich doch für unsterblich„, sagt Barbara Grimm – als Beuys-Schüler haben sie sich kennengelernt und pflegen offenbar eine ähnlich knorrige Ehe wie einst Loki und Helmut Schmidt – mit mehr Kunst, aber ohne Zigarettenqualm.
Der Faden in einem Glas aus Zuckerwasser
Alfred Grimm kommentiert das nicht. Aber er lässt schreiben. Seine Biografie. „Das soll der Faden sein in einem Glas aus Zuckerwasser“, sagt er. Kandiskristalle kondensieren an einem solchen Faden. Der Wunsch, dass andere etwas dazutun, ist spürbar. Und der Wunsch nach Anerkennung. Als Künstler, von dem etwas bleibt.
Den Tanzsaal einer ehemaligen Gaststätte in Hünxe-Bruckhausen hat er in einen Irrgarten verwandelt. „Meinen Hamsterbau“, nennt Grimm das Labyrinth aus Gängen zwischen mehr als mannshohen Regalen. Sperrmüll ist sein Fest – und im Internet ist immer irgendwie Sperrmüll. Oder Ausverkauf. An einer Wand hängen Weihwasserbecken. 48 Stück für 22 Euro. Plastik, eingeschweißt in noch mehr Plastik importiert aus Italien, hergestellt in China.
Irgendwie wird man das Gefühl nicht los, dass sich hier einer wehrt gegen den Ausverkauf des Christentums. „Ich hab meinen Daumen schon öfter mal in der Bibel“, sagt Grimm. An der Wand hängen Kreuze, ungezählt. Mehrere hundert Male hat er Jesus gerettet – aus dem Ramsch der Flohmärkte – und referiert kurz die Kunsthistorie: Die romanischen Kreuze zeigen Jesus aufrecht am Kreuz – Hände und Füße mit vier Nägeln eher fixiert als durchbohrt.
Ein gradliniger Herrscher. Tot, aber lebendig. Viel häufiger jedoch: der gotische Christus. Der leidende, der mit dem gesenkten Haupt, der Körper erschlafft, der an drei Nägeln hängt, weil ihm die Füße übereinander gelegt wurden. Dazu: moderne, stählerne Darstellung. Davor: ein leeres Blatt auf der Staffelei, so als wollte Grimm gleich anfangen zu malen.
Doch viel lieber zeigt er seine Wunderkammer. Zeigt sein „profanes Kreuz“, auf deren liegenden Balken Matchbox-Autos kollidieren. Und seine vielen Kreuzobjekte: Sie zeigen Christus als Fakir, Christus als Opfer mit Ketchup, Christus mit Spaghetti gekrönt oder, mit Infusionen versehen, als lntensivpatient. Eingebacken in ein Brot als „Laib Christi“.
Wenn Kunst und Kreuz nicht provozieren, sind sie Dekoration
Schwer verdaulich für viele. So wie die Objekte, bei deren Erstellung er sich gefragt hat, wie Christus zu anderen Zeiten gestorben wäre. Hat ihn als Märtyrer, als Widerstandskämpfer des Naziregimes an die Wand des Bendler-Blocks gestellt, ihn an einen mittelalterlichen Galgen gehängt, ihn im Wüstensand vergraben. Aber er hat ihn auch vom Kreuz genommen, es geneigt und den Korpus mit der Heißklebepistole geformt: Jetzt schaukelt Jesus am Kreuz.
Das ist Kunst, die weh tut. Kunst, die provoziert. Sonst wäre es auch keine Kunst, sondern Dekoration. „So wie das glitzernde goldene Kreuz im Brusthaar eines Machos auf Mallorca“, sagt Grimm, beinahe schimpfend und man ahnt, dass ihm das Kreuz doch heiliger ist, als es den Anschein hat. Vielleicht ist ihm nur die Kunst noch ein wenig heiliger – und daraus, nur daraus zieht er die Berechtigung, Christus vom Kreuz zu lösen, notfalls mit Gewalt, mit der Säge.
Und vielleicht ist das die größte Kunst und dieses eine Kreuz, das so ganz unscheinbar neben dem Türrahmen in einer der hintersten Kammer hängt, ihm ein besonders wichtiges Kreuz: Zwei Balken, aus Eiche, wie ihm der holländische Verkäufer versichert hat. Doch Christus ist verschwunden, der Corpus fehlt. Nur ein Schatten aus Asche und Staub ist auf den Balken zurückgeblieben. Christus ist vom Kreuz verschwunden.
Vielleicht auch: Auferstanden.