PresseZwischen Fliegendraht, Kohle und Blitzen die Welt entdecken
— Rheinische Post
Von Ralf Schreiner
Hünxe-Bruckhausen. Alfred Grimm liebt Aufträge, die ihn inspirieren, ohne seine künstlerische Freiheit einzuschränken. Aufträge wie beispielsweise das Fenster, das er für den Altarraum der evangelischen Kirche „Unsere Arche“ in Hünxe-Bruckhausen geschafften hat. Es ist ein Objektfenster. Das Besondere, in der europäischen Glaskunst bislang wohl Einzigartige an diesem aus 42 Einzelfeldern bestehenden Werk, ist seine raumgreifende Wirkung.
Der Künstler hat das traditionelle Glasfenster konsequent erweitert und sich in die dritte Dimension vorgewagt. Er hat vorwiegend in den unteren beiden Fensterzonen Objekte eingefügt, die formal wie inhaltlich die Aussage des Bildes als Silhouette und Gegenstand verstärken.
Beil und Pistole
Kohlebrocken und Kleiderbügel, Röntgenbilder, eine Brille, Fliegendraht und Kaninchengitter, Schachfiguren, eine Pistole, ein Beil und das Chassis eines Fernsehgerätes. Alltagsmüll, Strandgut aus dem täglichen Leben, arrangiert, komponiert zu einem aufregenden und faszinierenden Ganzen. Gestern wurde das Fenster eingesetzt. Am Sonntag, 26. April, wird es um 10.30 Uhr im Rahmen eines Festgottesdienstes eingeweiht.
Was oberflächlich betrachtet als bloße Provokation erscheinen mag, ist tatsächlich Grimms künstlerische Ausformung christlicher und weltlicher Gegebenheiten als theologisches Programm. Anknüpfungspunkt ist die Noah-Geschichte im Alten Testament. Über den Namen der Kirche „Unsere Arche“ stellt der Künstler den direkten Bezug her.
Die Schöpfung retten
Die Bewahrung des Lebens, die Rettung der Schöpfung auf der einen Seite, ihre Gefährdung und Vernichtung auf der anderen. Im linken Flügel überwiegen helle, frische, leuchtende Farben. Ein Vogelschwarm fliegt über grüne Bäume. Man sieht Häuser und gelbe Felder, verfolgt einen Regenbogen, der in den Himmel hineinwächst und den Blick auf eine weiße Taube lenkt, die Heiliger Geist und zugleich Friedenssymbol und von Noah ausgesandter biblischer Kundschafter ist. Hier ist der Mensch mit der Natur in Einklang. Der rechte Flügel bildet dazu einen scharfen Kontrast. Hier herrschen dunkle, trübe Erdfarben vor. Schwarze Wolken stehen am Himmel, grelle Blitze zucken, ein Gewitter zieht auf. Gequälte Natur, die Welt in Gefahr, die Menschen am Abgrund.
Trotz der differenzierten Farbigkeit und der oft starken Kontraste bleibt der Gesamteindruck stimmig. Farbflächen und -bänder ziehen den Blick über die Einzelelemente hinaus über das gesamte Fenster. Optische, eindeutige Zeichen leiten das Auge. Bäume, Industurieschlote, Siebdrucke von Autos, das Portrait von Pfarrer Pulla, Kreuze aus Glas, ein mullumwickeltes Kruzifix. Sie erweitern die Strukturbildung des Bleirutenmusters ebenso wie die durchscheinenden Rasterbleche oder die mit Messingdrähten an den Bleiruten festgelöteten Gegenstände. Der Fernseher etwa, der eine Collage aus bluttriefenden Zeitungsschlagzeilen vom Kriegsgeschehen am Golf sendet, die kleinen Glas-Container, die mit Mais, Ähren, Fliegen, Wespen und Mäusen gefüllt sind, mit Pflanzen, die auf den Feldern vor der Kirche wachsen und Tieren, die dort leben.
Wolkenspiel
Durch die Kombination von Gebrauchs- und Industriegläsern mit edlen, antiken, mundgeblasenen Gläsern bleibt für die Gemeinde der Blick auf die gewachsene, sich in der Tages- und Jahrezeit verändernde Natur frei. Man schaut auf eine Pappelreihe, sieht den bewegten Himmel, das Spiel der Wolken. Die Kirche hat einen Raum für sich, verliert aber nicht den Blick für die Außenwelt, für die sie mitverantwortlich ist. Der Künstler transportiert Weltlichkeit und damit Wirklichkeit in die Kirche hinein. Er fordert die Gemeinde zum Dialog auf, regt die Phantasie des Betrachters an, bewegt Herz und Verstand und bringt ihn über das bloße Schauen zum Denken. Alfred Grimms Objektfenster ist der Beweis dafür, daß das Inszenieren heiler Welten mittels künstlerischer Ausdrucksmittel einer modernen Kirche nicht mehr genügen kann.
Sein radikaler Bruch mit der Tradition weist daraus nicht nur neue Wege in der europäischen Glasmalerei. Der Einbau dieses Fensters ist auch ein mutiges Sig. Die Kunst der Gegenwart darf nie länger draußen vor der Kirchentür bleiben. Ihr Platz ist in der Kirche, mitten unter den Menschen.